Die Jahrhundertsaga (Ken Follett, 2010-2014, Lübbe-Verlag)

Die Jahrhundertsaga (Ken Follett, 2010-2014, Lübbe-Verlag)

“A baby was like a revolution, Grigori thought: you could start one, but you could not control how it would turn out.” – Sturz der Titanen

Die Jahrhundert-Saga ist wahrhaftig ein Meisterwerk über die Geschichte. Ken Follett kreiert mit seinen drei Romanen ‚Sturz der Titanen‘, ‚Winter der Welt‘ und ‚Kinder der Freiheit‘ eine Chronik des 20. Jahrhunderts, in der er anhand von fünf miteinander verbundenen Familien aus Deutschland, Amerika, Russland, England und Wales die Weltgeschichte erzählt.

Beginnen tut die Geschichte 1914, als in Europa noch Frieden herrscht, die Großmächte jedoch zum Krieg aufrüsten. Dies wirkt sich auf das Leben von Familien in aller Welt aus und jeder hat eine andere Rolle zu spielen … Es startet in Wales, wo Ethel Williams, Tochter einer Bergmannsfamilie und Dienerin im Haus von Earl Fitzherbert, in Schande entlassen wird, da sie ein uneheliches Kind erwartet. Doch Ethel geht stark daraus hervor und beginnt ihren Kampf für die Frauenrechte. Gleichzeitig träumt Walter von Ulrich, Nachkomme einer Adelsfamilie, von einem demokratischen Deutschland. Auf einer Reise nach London verliebt er sich in die emanzipiere Lady Maud, doch der Krieg verhindert das Glück der sich Liebenden. In St. Petersburg wachsen die Brüder Grigori und Lew Peschkow als Waisen auf, die allerdings getrennt werden, als Lew sich nach Amerika absetzt, wo er zunächst zu großem Reichtum gelangt, dann allerdings mit der Armee zurück nach Russland gerät … Zeitgleich entwickelt Grigori sich zu einem rechtschaffenden Revolutionär, der zudem auch noch Lews Scherben aufsammeln darf …

Wahnsinn, was für eine Geschichte Ken Follett dort erschaffen hat. Im ständigen Wechsel geht es um die verschiedenen Familien an den unterschiedlichen Orten und beim Lesen hat man das Gefühl, jedes Mal die Geschichte zu wechseln. Aber wider Erwarten verwirrt das nicht oder stört es, denn dadurch, dass es immer um das politische, soziale und kulturelle Weltgeschehen geht, erlebt man den Fortgang dieser einen Geschichte lediglich durch verschiedene Blickwinkel mit ganz unterschiedlichen Schwerpunkten. Ich habe noch nie einen Roman, bzw. in diesem Fall drei, gelesen, in dem man so viel über Weltpolitik, Emanzipation, Klassenkampf, Revolution, Segregation, Kultur und Entscheidungen lernt, wie es hier der Fall ist. Zudem hätte man sich zu Beginn der Geschichte, als man über die Erhebung der Arbeiter in Wales gelesen hat, nicht vorstellen können, irgendwann in Vietnam, Kuba, oder bei Martin Luther King anzukommen. Aber ganz natürlich war dies der Lauf der Geschichte und der Autor hat es lückenlos eingebunden.

Es ist irre, wie viele verschiedene Themen angesprochen wurden und mir sind ganz neue Verbindungen und Verknüpfungen klar geworden, die mir vorher gar nicht so bewusst waren. Es ist nicht immer leicht zu lesen, denn zu der Geschichte des 20. Jahrhunderts gehören überwiegend Konflikte und unter anderem auch der Nationalsozialismus oder die Unterdrückung von Minderheiten in anderen Teilen der Welt. Aber obwohl auch darauf sehr im Detail eingegangen wird, vielleicht auch gerade deshalb, da es ein Teil des Ganzen ist, konnte ich die Bücher nicht aus der Hand legen.

Das Einzige, was mich tatsächlich ein bisschen gestört hat, war das Ende. Man hat insgesamt etwa 3300 Seiten gelesen – das ist echt viel. Aber das Ende umfasst nur ca. 20 Seiten. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts klärt sich vieles und wird einiges merklich besser. Aber im Roman war plötzlich die Berliner Mauer gefallen und Obama war Präsident der Vereinigten Staaten. Das ist ein schönes Ende, so wie man es sich in einem Roman wünscht, aber ist das die Realität? Man erfährt nicht, ob in Wales oder in Russland auch „alles gut“ ist. Vielleicht wollte ich auch einfach noch nicht loslassen, da mich die Bücher so lange begleitet haben, aber irgendwie war ich noch nicht bereit für ein Ende. Gleichzeitig muss ich aber auch sagen, dass der Schlussstrich nicht mitten in einer Revolution kam und – ist es überhaupt jemals überall gut gewesen? Leider nein, und dann war dieser Zeitpunkt für ein Ende wohl noch der Beste. Ihr merkt es, eine uneingeschränkte, absolute Empfehlung von mir, die einen nicht so schnell loslässt. Ich würde die Saga glatt noch einmal lesen!

Lena

Mich würde total interessieren, was ihr von der Jahrhundert-Saga haltet, wenn ihr sie gelesen habt. Zu lang? Zu kurz? Zu verwirrend? Beeindruckend? Ich weiß gar nicht, wonach ich fragen soll …

Als die Welt zerbrach (John Boyne, 2022, Piper Verlag)

Als die Welt zerbrach (John Boyne, 2022, Piper Verlag)

„Ich habe die Macht genossen, die ich hatte, das ja. Es war ein aufregendes und beängstigendes Gefühl zugleich. Was hätte ich deiner Meinung nach tun sollen? Ich war Soldat. Und Soldaten gehorchen Befehlen. Hätte ich mich geweigert, wäre ich erschossen worden.“ (Aus ‚Als die Welt zerbrach‘)

Im Jahr 2022 lebt Gretel Fernsby in ihrer Londoner Wohnung, von wo aus sie mit ihren über neunzig Jahren ein ruhiges Leben führt. Sie hat ein neues Leben angefangen und spricht niemals über ihre Flucht aus Deutschland, den Tod ihres Bruders oder über ihren Vater, der Kommandant in einem Konzentrationslager war. Eines Tages zieht unter ihr eine junge Familie mit einem neunjährigen Sohn, Henry, ein. Gretel wird von Zeit zu Zeit Zeugin von körperlicher Gewalt in der Familie und hat diese einmalige Chance, den Jungen zu retten, wo sie es doch bei ihrem Bruder nicht konnte. Zudem könnte sie endlich ein kleines Bisschen ihre Schuld sühnen, denn auch wenn sie ihre Vergangenheit hinter sich gelassen hat, trägt sie diese seitdem mit sich herum. Doch wenn Gretel dies tun will, dann steht ihre zurückgezogene Existenz auf dem Spiel, denn sie muss offenbaren, was sie fast achtzig Jahre lang verschwiegen hat …

Dieser Roman ist die Fortsetzung des Bestsellers Der Junge im gestreiften Pyjama (John Boyne, 2007, Fischer Verlag). John Boyne erzählt, wie und ob die Tochter eines Kommandanten eines Konzentrationslagers nach dem Krieg mit der Schuld, die sie womöglich auch trägt (?) leben kann. Ja, hat sie Schuld oder nicht? Haben die jungen Soldaten Schuld, die im Konzentrationslager arbeiten mussten oder ansonsten erschossen wurden? Hat die gesamte Gesellschaft Schuld, weil sie durch alle Poren indoktriniert wurde und dadurch mal bewusst, mal unbewusst mitmachte? Der Roman ist immer aus Gretels Sicht, aber zu verschiedenen Zeiten geschrieben. Unmittelbar nach dem Krieg lebt sie mit ihrer Mutter in Paris, wo sie versuchen, sich ein neues Leben aufzubauen. Mit Anfang zwanzig lebt Gretel eine Weile in Sydney, getrieben von ihrer Schuld in Europa. Doch sie kommt zurück und zieht nach London, wo sie nun als Rentnerin erzählt.

Ich fand es sehr spannend, ihre unterschiedlichen Entwicklungsstufen zu entdecken. Immer das gleiche Gefühl der Angst, entdeckt zu werden, immer der selbe Antrieb – die Schuld, aber doch jedes Mal in jeder Stadt ein anderer Umgang damit, denn es geht ums Überleben. Mehr zählt nicht …

Ich war zu Beginn ein bisschen skeptisch dem Buch gegenüber, denn kann es zu „Der Junge im gestreiften Pyjama“ eine Fortsetzung geben? Für mich endete die Geschichte unweigerlich mit dem Ende des Buches. Aber nein, ich wurde eines Besseren belehrt, denn die Zeit danach ist in diesem Roman unfassbar gut dargestellt durch die Augen einer liebenden und trauernden Schwester. Ein absolutes Muss für alle, die den ersten Teil gelesen haben!

Lena

Schon wieder ein überraschendes Ende, oder? Hättet ihr Gretel diese letzte ‚Sache‘ zugetraut?

Project Jane – Ein Wort verändert die Welt (Lynette Noni, 2019 – Oetinger-Verlag)

Project Jane – Ein Wort verändert die Welt (Lynette Noni, 2019 – Oetinger-Verlag)

Jane Doe, JD, Subjekt-Sechs-Acht-Vier, Chip – oder doch ganz anders? Wie ist der Name des Mädchens, das seit zweieinhalb Jahren kein Wort gesprochen hat und ein Buch mit sieben Siegeln ist?

Jane, so nenne ich sie jetzt mal der Einfachheit halber, da keiner ihren echten Namen kennt, befindet sich seit zweieinhalb Jahren in Lengard, einer geheimen Regierungseinrichtung für besondere Menschen, nachdem sie sich selber in der Psychiatrie einweisen lies. Seit sie dort angekommen ist, lässt sie jeden Tag den gleichen Ablauf über sich ergehen, wobei sie stehts von Wächtern kontrolliert wird. Morgens hat sie ihre Sitzungen bei Professor Manning, einem Psychologen. Anschließend treibt sie Sport mit Enzo, um danach bei Vanik, der nicht davor zurückschreckt, seine Patienten zu quälen, um an seine Informationen zu gelangen, ein- und auszugehen. Sofern sie danach noch bei Bewusstsein ist (welche Information ist so wichtig, dass man seine Patienten regelmäßig kaputt macht???), besucht sie weitere Gespräche mit Gutachtern, wobei Gespräche relativ ist, da sie schlicht und einfach nicht redet.

Man könnte sich fragen, warum sie diesen immer gleichen Ablauf seit zweieinhalb Jahren über sich ergehen lässt – Tja, sie macht das nicht freiwillig, will aber auch um keinen Preis irgendwelche Informationen von sich preisgeben. Als die Leiter des „Programms“ befürchten, an ihr zu scheitern, bekommt sie einen neuen Therapiepartner – Ward. Aber auch ihm kann Jane sich nicht öffnen – und wer ist er und was für ein Spiel spielt er überhaupt?  

Aus welchem Grund sie so verschlossen und stur ist, bleibt lange ein Geheimnis, da Jane sich jegliche Gedanken an ihre Vergangenheit verbietet. Außerdem – weiß sie überhaupt selbst, was mit ihr los ist? Und wem soll sie am Ende überhaupt glauben, wo doch jeder etwas anderes sagt?

Lynette Noni hat in ihrem Roman eine ganz neue Spezies von Menschen erschaffen, die in der uns bekannten Welt lebt. Die Geschichte wird von der Protagonistin Jane Doe erzählt, jedoch führt das in diesem Fall nicht dazu, dass man sie sofort sehr gut kennenlernt. Denn was mich so gefesselt hat ist genau der Punkt, dass Jane nichts von sich preisgibt. Wer sie ist, wo sie herkommt, warum sie in die Psychiatrie wollte und nicht einmal ihren Namen kennt der Leser. Aber genau das verleiht dem Roman die Spannung und als Leser konnte ich mich in die Gefühle der verschiedenen Figuren hineinversetzen, da ich gefühlt habe, was Jane fühlte, jedoch wusste ich auch nur das, was all die anderen über sie wussten, wodurch ich den Nebenfiguren näher kam.

Mir hat der Roman super gefallen und ich kann ihn allen Lesern empfehlen, die gerne in fiktive Welten eintauchen und versuchen, andere Systeme zu verstehen bzw. ihre Geheimnisse aufzudecken. Vielleicht gibt es jemanden, der „Silber“ oder „Die Bücher der Erinnerung“ gelesen hat? Dann ist „Project Jane“ auch etwas für dich!!

Lena

Könnt ihr nachvollziehen, dass Jane so lange stumm bleibt und all die Torturen über sich ergehen lässt? Und was denkt ihr von Ward Verhalten Jane gegenüber? Schreibt es in die Kommentare! 😊