28 Tage lang (David Safier, August 2015, Rowohlt-Taschenbuch)

28 Tage lang (David Safier, August 2015, Rowohlt-Taschenbuch)

„Was für ein Mensch willst du sein?“

Mira ist 16 Jahre alt, in Polen aufgewachsen und Jüdin. 1943 lebt sie mit ihrer Mutter und ihrer jüngeren Schwester im Warschauer Ghetto. Um zu überleben, schmuggelt sie Lebensmittel ins Ghetto hinein, eine Tat, die ihr das Leben kosten könnte. Aber für Mira bedeutet ihre jüngere Schwester Hannah alles, und so riskiert sie regelmäßig den Weg aus dem Ghetto, auch wenn es immer schwieriger wird. Als durchsickert, dass die gesamte Ghettobevölkerung ermordet werden soll, schließt Mira sich dem Widerstand an. Wider Erwarten kann dieser der SS länger trotzen als gedacht, 28 Tage lang um genau zu sein …

Mira durchläuft in ihrem Kampf ums Leben verschiedene Phasen und muss sich einigen Fragen stellen, aber vor allem der einen: Was für ein Mensch willst du sein? Als was für ein Mensch willst du sterben? Diese Frage begleitet sie ständig. Denn in 28 Tagen erlebt sie Momente der Liebe, des Hasses, des Glücks und des Verrats, in 28 Tagen muss sie sich entscheiden, wem und was ihr Herz gehört, in 28 Tagen könnte jeder Tag der Letzte sein und sie muss ein ganzes Leben leben und in 28 Tagen muss sie ein Ghetto retten.

„28 Tage lang“ ist eine unglaubliche Geschichte. Sie ist im Detail fiktiv, bezieht sich aber auf das echte Warschauer Ghetto. Personen, die historisch belegt sind, treten hier auf und Geschichten, die verschiedene Überlebende aus dem Ghetto mitbrachten, vereint Mira in ihrer Person. Gleichzeitig treten Nebencharaktere auf, die jeder für sich, eine absolut nachvollziehbare Rolle, Einstellung zu Leben und Überzeugung haben, sodass ich mich häufig gefragt habe, wie würde ich wohl handeln, wer wäre ich? Diese Realität hat mich vom Hocker gehauen. Es ist unglaublich, was für eine Last und Verantwortung so eine Situation auf die Schultern eines 16-jährigen Mädchens laden kann und wie sie damit umgeht. Mira ist eine durch und durch mutige und liebende Person, die alles tut, um ihre Schwester aus dem Ghetto zu bringen. Dass sie dabei ihr eigenes Leben riskiert, sich entgegen ihrer Überzeugung einer sehr speziellen Widerstandsgruppe anschließt, der es nur darum geht, wie man stirbt (der Tod selbst sei unausweichlich) und selbst zur Waffe greift, rückt dabei in den Hintergrund. Ich finde es beeindruckend, was für Kräfte ein Mensch in einer solchen Situation entwickeln kann, aus welchen kleinen Dingen er Kraft schöpfen kann und wie es doch möglich scheint, gedanklich immer mal in eine andere, so viel schönere Welt zu fliehen …

Zum Teil ist der Roman echt brutal ehrlich und ich brauchte manchmal einen Moment, um weiterlesen zu können, aber gleichzeitig konnte ich das Buch nicht aus der Hand legen. Die Geschichte berührt und lässt einen sich selbst die Frage stellen: Was für ein Mensch will ich sein?

Würden wir Sterne verteilen, dann würde dieser Roman definitiv 5 Sterne bekommen, also greift zu! Aber nehmt euch Zeit zum Lesen und auch bewusst zum Nachdenken, so kommt man irre real in die Geschichte hinein. Ich bin echt gespannt, was ihr dazu sagt und vielleicht macht ihr euch ja auch mal Gedanken über die Frage: Was für ein Mensch willst du sein?

Lena

Jahre aus Seide (Ulrike Renk, 2020, Aufbau-Taschenbuch-Verlag)

Jahre aus Seide (Ulrike Renk, 2020, Aufbau-Taschenbuch-Verlag)

„Wenn ich einmal nicht mehr auf dieser Welt bin, dann sehen meine Enkel und Urenkel aus diesem Buch, dass meine Jugend, so schön sie mir von meinen Eltern auch gemacht wurde, doch nicht so sorgenlos war, wie [es], so hoffe ich fest, meine Nachfahren einmal haben werden.“ (Auszug aus dem Tagebuch von Ruth Meyer)

1932. Ruth Meyer lebt zusammen mit ihrer jüngeren Schwester Ilse und ihren Eltern in einem schönen Haus in Krefeld, wo sie am liebsten Zeit in der benachbarten Villa des Seidenhändlers Merländer mit ihrer Freundin Rosi verbringt. Sie hat eine unbeschwerte Kindheit und Jugend, lernt das Nähen zu lieben und sie begegnet ihrer ersten großen Liebe Kurt. Die Sommer verbringt die Familie am liebsten mit der befreundeten Familie Aretz und Ruths Cousin Hans in der Sommerfrische.

Als jedoch die Nationalsozialisten an die Macht kommen, scheint es für die Familie keine Zukunft in Krefeld zu geben, denn die Meyers sind jüdisch. Mehrere befreundete Familien überlegen, auszuwandern und auch Ruth soll gegen ihren Willen von der Familie fortgehen. Doch bevor irgendjemand Entscheidungen treffen kann, kommt der Tag, an dem das Schicksal der Familie Meyer in Ruths Händen liegt …

„Jahre aus Seide“ ist der erste Teil von vier Bänden, die die Geschichte von Ruth und ihrer Familie erzählen. Die Romane basieren sowohl auf sehr ausführlichen Nachforschungen der Autorin, als auch auf Ruths Berichten aus ihrem Tagebuch, denn die Geschichte ist wahr. Die Familie Meyer lebte wirklich in Krefeld und in meinen Augen hat die Tatsache, dass all die Eindrücke, die aus Ruths Perspektive beschrieben sind, wahr sind, die Geschichte umso wertvoller und berührender gemacht. Ulrike Renk hat mich weinen, hoffen und lachen lassen, weil sie mich auf eine Reise zu einer Familie mitgenommen hat, die von einem Hochpunkt im Leben zu einem Tiefpunkt gesprungen ist und trotzdem nie gänzlich die Hoffnung verloren hat.

Die Familie Meyer war eine gut situierte jüdische Familie, was ihnen sehr vielen Punkten zum Verhängnis geworden ist, in anderen Momenten aber auch ein wenig geholfen hat. Die Romane sind die ganze Zeit aus Ruths Perspektive oder aber aus der eines allwissenden Erzählers geschrieben, wodurch man als Leser wirklich ganz nah an der echten Handlung und den echten Gefühlen dran ist. Ich habe die Romane verschlungen und geliebt, auch wenn es zwischenzeitlich echt schwierig war, das Gelesene zu verarbeiten. Es ist eine sehr tiefgründige Geschichte, die aber als leichte Lektüre verpackt ist und deshalb würde ich jedem, der an Einzelschicksalen, die es aber in tausendfacher Zahl gab, interessiert ist, empfehlen, sie Zeit für diese Romane zu nehmen.

Lena

Hättet ihr eure Familie verlassen, um zu arbeiten und mit der Mini-Hoffnung, dass ihr sie damit retten könnte? Und was habt ihr gefühlt, als Ilse und Ruth nach der Reichskristallnacht in die Friedrich-Ebert-Allee gekommen sind?