Die Wahrheit schmeckt nach Marzipan (Annie E. Lindner, 2021 – Franke-Verlag)

Die Wahrheit schmeckt nach Marzipan (Annie E. Lindner, 2021 – Franke-Verlag)

„Der, der loslassen muss, erfährt unerträglichen Schmerz. Davor hast du Angst. Aber für denjenigen, der geboren wird oder stirbt, ist es der Beginn eines neuen Abenteuers, der Übergang in eine neue Welt.“

Wie kann denn bitte ein Tagebuch bei tiefer Trauer helfen? Das fragt sich die 16-jährige Tally, die überraschend ihren Vater verloren hat. In ihrer Trauer isoliert sie sich zunehmend und gerade die Hilfe ihrer überforderten Mutter und der Therapeutin, die ihr empfiehlt, ihre Gefühle aufzuschreiben, kann sie überhaupt nicht gebrauchen.

Eines Tages lernt Tally die alte Frau Möller kennen, die mit einem Papageien zusammenlebt und eine große Vorliebe für Marzipan hat. Diese lädt Tally zum Tee ein, wo dem Mädchen ein Foto von Frau Möllers in den Krieg gezogenen Onkel in die Hände fällt, das sie irgendwie doch zum Schreiben inspiriert. Und dann gibt es ja auch noch Sanna, Tallys beste Freundin, die sich von „der neuen Tally“ keineswegs zurückweisen lässt und Mr Wow, der Tally irgendwie nicht mehr aus dem Kopf geht. Blöderweise sind aber alle beiden Christen und mit der Religion kann Tally gar nichts anfangen und auf entsprechende Ratschläge konnte sie bis jetzt immer bestens verzichten …

Liebe, Trauer, Mut, Angst, Freude, Wut, Verzweiflung und Hoffnung – all diese Gefühle sind in dem Roman vereint. Annie E. Lindner hat einen durch und durch aufwühlenden und zum Nachdenken anregenden Roman geschrieben, den ich mehrfach aus der Hand legen musste, weil ich mir die gleichen Fragen gestellt habe, mit denen Tally konfrontiert wurde. Gibt es so etwas wie Macht über Leben und Tod? Ist die schlechte Wahrheit wirklich besser als die gute Lüge? Und was ist meine eigene Wahrheit?

Dadurch, dass sich die Handlung größtenteils zwischen der nicht-religiösen Tally und ihren religiösen Mitmenschen und Freunden abspielt, wird der christliche Glaube bis auf seine Grundzüge kritisch hinterfragt. Und ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich beide Parteien immer verstehen konnte und meine Meinung doch ein bisschen verändert habe. Ich bin beeindruckt von der Ernsthaftigkeit, die in einem scheinbar einfachen Großstadtleben einer 16-jährigen auftreten kann und ich bin inspiriert, mich mit verschiedenen angesprochenen Themen intensiver auseinanderzusetzen.

Ich kann den Roman allen empfehlen, die sich mal auf eine Reise zu sich selbst begeben wollen und vielleicht ein ähnliches Schicksal wie Tally durchlebt haben. Viel Spaß beim Lesen!

Lena

Könnt ihr Tally Reaktion nach dem Öffnen des Briefes ihres Vaters nachvollziehen? Und was habt ihr gedacht, was für eine Geschichte hinter dem Foto von Frau Möllers Onkel steckt? Schreibt es in die Kommentare! 😊

Hallo, Mister Gott, hier spricht Anna (Fynn; 1974 – Scherz Verlag/jetzt Fischer)

Hallo, Mister Gott, hier spricht Anna (Fynn; 1974 – Scherz Verlag/jetzt Fischer)

„Sieh mal Fynn, das ist doch einfach. Ich habe ein ‚vorne‘ und ein ‚hinten‘. Und wenn ich hinten was sehn will muss ich mich umdrehen, weil ich hinten keine Augen hab. Aber Mister Gott hat nur ein ‚vorn‘ und kein ‚hinten‘. Er schaut überall hin, gleichzeitig.“ – Anna in Kapitel 23

Fynn ist 19 Jahre alt, als er der 5-jährigen Anna begegnet und sie mit zu sich nach Hause nimmt. Im Londoner Armenviertel der 1930er Jahre erzählt Anna, dass sie nicht zurück nach Hause könne. So nimmt Fynns Mutter, die sich ohnehin um Waisenkinder kümmert, sie bei sich auf. 

Zunächst wird Fynn nicht ganz schlau aus Anna, aber mit der Zeit versteht er ihre Weise zu denken. Als beste Freude erforschen die beiden die unterschiedlichsten Dinge und Anna kann schon mit 7 Jahren auf ihre eigene Art erklären, wie Dimensionen funktionieren, wie man einen Stromkreis baut, was Symmetrie ist oder wie man mit Hilfe eines Rechenschiebers und eines Klaviers herausfindet, wie oft eine Hummel ihre Flügel pro Minute bewegt. 

Vor allem aber denkt sie über Gott nach. Was immer sie neu entdeckt oder herausfindet, hat für sie einen Zusammenhang zu Mr. Gott, wie sie ihn nennt. Dass wir Fehler machen, weil Gott uns nach seinem Ebenbild geschaffen hat. Aber er kann uns nur im Spiegel gesehen haben, und deshalb sind wir verkehrt herum. Oder dass Gott uns anders versteht als Menschen, weil er uns nicht nur von außen, sondern auch von innen sehen kann. 

Den Pfarrer und ihre Lehrerin macht Anna mit ihren Überlegungen und ihrem Weltbild ganz verrückt, aber Fynn versteht sie. Manchmal denkt sie tagelang über etwas nach, um dann Fynn mitten in der Nacht zu wecken und ihm von ihrer Erkenntnis zu erzählen. 

Obwohl Fynn als deutlich Älterer Anna alles erklärt, was er weiß, ist es doch eigentlich Anna, die ihm die Welt neu zeigt.

Das Buch ist in einzelnen Kapiteln geschrieben, die zwar chronologisch verlaufen, aber jedes für sich eine andere Geschichte aus dem Alltag der beiden erzählen. Durch Annas besonderen Charakter habe auch ich neue Dinge und vor allem neue Perspektiven kennengelernt. Wenn Anna Fynn etwas erklärt, scheinen alle Dinge einfach zu verstehen und besonders zu sein. Anna zeigt den Wert der Neugierde. Das Buch ist einfach toll und gleichzeitig sehr schön. 

Majlis

Welche Erkenntnis hat euch am meisten überrascht? Hat das Buch euch neue Perspektiven ermöglichen können? Schreibt es in die Kommentare! : )

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