Sturmmädchen (Lilly Bernstein, Februar 2024, Ullstein-Verlag)

Sturmmädchen (Lilly Bernstein, Februar 2024, Ullstein-Verlag)

Drei junge Frauen. Ein Schwur. Wie stark ist eine Freundschaft?

Diese Zeilen stehen auf dem Klappentext des Romans, der die Geschichte von drei jungen Frauen erzählt, deren Freundschaft mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten große Steine in den Weg gelegt werden.

Elli, Margot und Käthe kennen sich aus Kindertagen, in denen sie in jedem Sommer, wenn Margot aus der Stadt zu Besuch ins Dorf kam, gespielt, gelacht und Spaß gehabt haben. Sie träumen an einem heißen Sommertag eine jede von ihrer Zukunft und malen sich aus, wo sie wohl in fünf Jahren sein werden. Doch die friedliche Stimmung wird getrübt, als eine Gruppe Jugendlicher in Uniformen der Hitlerjugend auftaucht und den Mädchen einen ordentlichen Schrecken einjagen. Was zunächst bei einem Schrecken bleibt, wird schon bald zu einem Keil, der sich zwischen die Freundinnen drängt. Denn während Margot als Jüdin schon bald gewaltige Restriktionen spürt und es für sie um Leben und Tod geht, folgt Käthe ihrem Vater, ihren Brüdern und damit der breiten Masse der Bevölkerung in die Partei. Elli steht zwischen den Freundinnen und muss eine Entscheidung treffen: Folgt sie ihrem Instinkt und ihrer Überzeugung und schlägt ihren ganz eigenen Weg ein? Trotz aller Gefahren, die er birgt …

Lilly Bernstein hat mit diesem Roman ein riesiges Werk geleistet. Ich habe beim Lesen gelacht, geweint, gehofft, gezittert, mitgefiebert und musste das ein oder andere Mal das Buch zur Seite legen, um zu verdauen, was ich da gelesen habe. Historisch ist die Geschichte unfassbar gut recherchiert und legt einen Fokus, den viele Romane dieser Zeit nicht unbedingt haben. Es geht hier nämlich zum Teil ganz gezielt um die Judenhäuser. Ein grausames Kapitel, was häufig nur am Rande behandelt wird, hier aber eine zentrale Rolle spielt. So interessant es auch ist, so sehr hat es mich auch emotional mitgenommen, denn die Autorin beschreibt sehr authentisch die Umstände im Judenhaus, aber auch in dem kleinen linientreuen Dorf, sodass ich permanent ein so klares Bild vor Augen hatte, dass ich mir manchmal sogar gewünscht habe, es wäre weniger einprägsam. Emotional spricht der Roman also zum einen natürlich die Judenverfolgung an, aber auch das Thema Freundschaft hat eine zentrale Rolle in dem Roman. Wie weit traut Elli sich zu gehen, um Margot und ihre Familie zu unterstützen? Und welche Rolle spielt Käthe, die sich der Nationalsozialistischen Frauenschaft angeschlossen hat und nichts tut, als ihre Freundinnen mit Steinen nach Margot werfen? Konnte sie ihre Kinder- und Jugendfreundschaft wirklich einfach so vergessen?

Während des Lesens habe ich mir viele dieser Fragen gestellt. Ich war selbst so verzweifelt, dass ich keine Antworten gehabt hätte. Wie hätte ich mich verhalten? Hätte ich genug Mut gehabt, im Untergrund zu arbeiten? Zuweilen dachte ich beim Lesen im Hinblick auf das Ende, dass es entweder ein furchtbar tragisches Ende geben muss oder aber hoffnungslos unrealistisch gut wird. Aber nichts davon ist eingetreten. Es ist ein optimistisch realistisches Ende und ohne zu viel zu verraten, kann ich sagen, dass ich mit einem lächelnden und einem weinenden Auge die Buchdeckel geschlossen habe.

Ich kann in jedem Fall eine große Empfehlung aussprechen für den Roman, denn wie ich bereits sagte, ist er unfassbar gut recherchiert, holt den Leser dabei aber super ab und überfährt einen nicht mit Informationen. Es ist sprachlich sehr einfach zu lesen, wenn auch emotional echt keine leichte Kost. Aber ich habe es verschlungen und hätte Elli auf ihrem Weg gerne noch eine Weile länger begleitet.

Lena

Habt ihr mit dem Ende bzgl. Käthe gerechnet? Und wie glaube ihr, geht es weiter? Was hält in euren Augen die Zukunft für Elli bereit?

Die Kinder von Beauvallon (Bettina Storks, Diana-Verlag, 2023)

Die Kinder von Beauvallon (Bettina Storks, Diana-Verlag, 2023)

„Il faut du courage. Encore une dernière fois. Nur noch ein letztes Mal Mut.“ (‚Die Kinder von Beauvallon‘)

1965 reist die 30-jährige Agnes, eine Radiomoderatorin aus Freiburg, in den französischen Ort Dieulefit, wo im Zweiten Weltkrieg mehr als tausend Flüchtlinge Schutz fanden. Unter den Flüchtlingen waren viele jüdische Kinder, die von den Bewohnern u.a. in der Schule Beauvallon versteckt wurden. Als der Auftrag an Agnes herangetragen wird, erinnert sie sich daran, dass ihre beste Kindheitsfreundin Lilly damals nach Frankreich deportiert wurde. Ohne groß darüber nachzudenken, stürzt sie sich in den Auftrag hinein. Und auch wenn es darum in erster Linie nicht geht, schließlich soll sie über den Mut der Dorfbewohner, den Zusammenhalt, die Résistance und die Angst vor den Nationalsozialisten berichten, hofft sie, auf ihrer Reise Spuren zu finden, wie es ihrer totgeglaubten Freundin Lilly nach der Deportation ergangen ist. Und irgendwo keimt auch ein Fünkchen Hoffnung, dass sie eventuell zu den Kindern von Beauvallon gehört haben könnte …

Wer sich auf diesem Blog schon ein bisschen umgesehen hat, weiß, dass ich die Romane von Bettina Storks regelrecht verschlinge. Nach jedem Buch sage ich: „Das ist er, mein neuer Lieblingsroman“, aber wenn mich jemand nach meinem Lieblingsbuch fragt, dann könnte ich mich doch nicht entscheiden.
Hierbei ging es mir – große Überraschung – nicht anders. Das liegt nicht daran, dass die Geschichte durch und durch besonders schön ist, eigentlich im Gegenteil. Sie ist traurig, zum Verzweifeln und macht einen wütend, denn es ist so unfassbar ungerecht und grausam, was den Juden im Zweiten Weltkrieg widerfahren ist. Aber gleichzeitig – und ja, es ist möglich – ist die Geschichte wunderschön. Davon zu lesen, wie ein Dorf zusammengehalten hat, um Flüchtlinge zu retten und das Regime aus den oberen Reihen heraus sabotiert hat, ist bewundernswert. Durch die Augen von Kindern mitzuerleben, wie ihnen ein neues Zuhause in Beauvallon aufgebaut wurde ist unfassbar rührend. Und zu verfolgen, was die Résistance in einem gewaltigen Netz geleistet hat, erfüllt mich einfach nur mit Ehrfurcht.
Die Geschichte ist wahr. Dieulefit liegt ziemlich genau zwischen Montpellier und Lyon und die Schule, Beauvallon, wird heute noch betrieben. Obwohl ich mich schon sehr viel mit der französischen Geschichte während des Zweiten Weltkrieges beschäftigt habe, war mir dieses Kapitel bis jetzt verborgen geblieben. Es fordert einiges an Mut, als Autorin so in der Vergangenheit zu graben, um einen Roman zu schreiben, der der Realität gerecht wird.
Jedoch bin ich (mal wieder) der Überzeugung, dass Bettina Storks das in Perfektion geschafft hat. Ich habe gelacht, geweint, wütend das Buch zugeschlagen und inspirierende Zitate bis zum geht nicht mehr gesammelt. Der Wechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit lässt den Leser aus verschiedenen Blickwinkeln auf die Geschichte schauen und ganz ehrlich, ich konnte das Buch nicht weglegen. Es war die perfekte Lektüre für eine gelungene Weihnachtspause, denn etwas Besseres zum Versinken und Abtauchen hätte ich mir nicht vorstellen können!

Lena

Ich möchte euch noch ein paar ausgewählte Textstellen geben, über die ich lange nachgedacht habe, vielleicht geht es euch ja genauso …

„Niemand fühlte sich in Dieulefit als Held, nur als Mensch, der das Richtige tat. Wir nennen das hier die Banalität des Guten.“

„Jeder muss seinen Weg finden. Jeder für sich allein, und manchmal kreuzen sich Wege, und man geht eine Weile gemeinsam, vielleicht sogar ein ganzes Leben. Man driftet weg, geht wieder aufeinander zu und lernt sich neu kennen. Das ist die Natur der Freundschaft. Das ist es, was wir gerade erleben.“

„Du hast mir so gefehlt, Papa, aber du hast mir beigebracht, für die Schwächeren einzustehen. Verzeih mir, dass ich es dir nicht gesagt habe.“

„Il faut du courage. Encore une dernière fois. Nur noch ein letztes Mal Mut.“

28 Tage lang (David Safier, August 2015, Rowohlt-Taschenbuch)

28 Tage lang (David Safier, August 2015, Rowohlt-Taschenbuch)

„Was für ein Mensch willst du sein?“

Mira ist 16 Jahre alt, in Polen aufgewachsen und Jüdin. 1943 lebt sie mit ihrer Mutter und ihrer jüngeren Schwester im Warschauer Ghetto. Um zu überleben, schmuggelt sie Lebensmittel ins Ghetto hinein, eine Tat, die ihr das Leben kosten könnte. Aber für Mira bedeutet ihre jüngere Schwester Hannah alles, und so riskiert sie regelmäßig den Weg aus dem Ghetto, auch wenn es immer schwieriger wird. Als durchsickert, dass die gesamte Ghettobevölkerung ermordet werden soll, schließt Mira sich dem Widerstand an. Wider Erwarten kann dieser der SS länger trotzen als gedacht, 28 Tage lang um genau zu sein …

Mira durchläuft in ihrem Kampf ums Leben verschiedene Phasen und muss sich einigen Fragen stellen, aber vor allem der einen: Was für ein Mensch willst du sein? Als was für ein Mensch willst du sterben? Diese Frage begleitet sie ständig. Denn in 28 Tagen erlebt sie Momente der Liebe, des Hasses, des Glücks und des Verrats, in 28 Tagen muss sie sich entscheiden, wem und was ihr Herz gehört, in 28 Tagen könnte jeder Tag der Letzte sein und sie muss ein ganzes Leben leben und in 28 Tagen muss sie ein Ghetto retten.

„28 Tage lang“ ist eine unglaubliche Geschichte. Sie ist im Detail fiktiv, bezieht sich aber auf das echte Warschauer Ghetto. Personen, die historisch belegt sind, treten hier auf und Geschichten, die verschiedene Überlebende aus dem Ghetto mitbrachten, vereint Mira in ihrer Person. Gleichzeitig treten Nebencharaktere auf, die jeder für sich, eine absolut nachvollziehbare Rolle, Einstellung zu Leben und Überzeugung haben, sodass ich mich häufig gefragt habe, wie würde ich wohl handeln, wer wäre ich? Diese Realität hat mich vom Hocker gehauen. Es ist unglaublich, was für eine Last und Verantwortung so eine Situation auf die Schultern eines 16-jährigen Mädchens laden kann und wie sie damit umgeht. Mira ist eine durch und durch mutige und liebende Person, die alles tut, um ihre Schwester aus dem Ghetto zu bringen. Dass sie dabei ihr eigenes Leben riskiert, sich entgegen ihrer Überzeugung einer sehr speziellen Widerstandsgruppe anschließt, der es nur darum geht, wie man stirbt (der Tod selbst sei unausweichlich) und selbst zur Waffe greift, rückt dabei in den Hintergrund. Ich finde es beeindruckend, was für Kräfte ein Mensch in einer solchen Situation entwickeln kann, aus welchen kleinen Dingen er Kraft schöpfen kann und wie es doch möglich scheint, gedanklich immer mal in eine andere, so viel schönere Welt zu fliehen …

Zum Teil ist der Roman echt brutal ehrlich und ich brauchte manchmal einen Moment, um weiterlesen zu können, aber gleichzeitig konnte ich das Buch nicht aus der Hand legen. Die Geschichte berührt und lässt einen sich selbst die Frage stellen: Was für ein Mensch will ich sein?

Würden wir Sterne verteilen, dann würde dieser Roman definitiv 5 Sterne bekommen, also greift zu! Aber nehmt euch Zeit zum Lesen und auch bewusst zum Nachdenken, so kommt man irre real in die Geschichte hinein. Ich bin echt gespannt, was ihr dazu sagt und vielleicht macht ihr euch ja auch mal Gedanken über die Frage: Was für ein Mensch willst du sein?

Lena

Die Schule am Meer (Sandra Lüpkes; 2020; Rowohlt-Verlag)

Die Schule am Meer (Sandra Lüpkes; 2020; Rowohlt-Verlag)

„Es war das Los der Lehrer, dass das Erreichen des Ziels zugleich auch den Abschied bedeutete.“

1925 wird auf der kleinen Insel Juist zwischen Wattenmeer und Nordsee von ein paar Lehrern die „Schule am Meer“, die erste reformpädagogische Schule in Deutschland, gegründet. Mit dabei sind Anni und Paul Reiner, die ihr ganzes Herzblut in die Errichtung des Internats stecken. Der Fokus soll auf dem gleichberechtigten Miteinander und dem praktischen Lernen im Einklang mit der Natur liegen. Sogar der große deutsche Dirigent Eduard Zuckmayer kommt als Musiklehrer auf die Insel, da die Schule Lehrern sowie Schülern eine Chance, und die Insel ihnen ein Zuhause bietet.

Doch auch die kleine, von der Welt abgeschottete Insel, auf der die Zeitung immer erst zwei Tage zu spät ankommt und die im Winter bei eisiger Kälte keine Möglichkeit hat, sich zu versorgen, wird von der Entwicklung in der Politik eingeholt. Und so ist man sich auf der Insel nicht einig, was man von der Schule halten soll, die bei vielen auch als „Hort für Kommunisten und Juden“ verschrien ist. Und so drohen jahrelange Arbeit der Gemeinschaft langsam auseinanderzubrechen …

Die Autorin, die selbst auf Juist aufgewachsen ist, hat in diesem Roman die Geschichte einer Schule festgehalten, die zu großen Teilen vergessen oder links liegen gelassen wurde. Auf ihrer Recherche-Reise ist sie den Lehrern und Schülern ins Tessin, nach Berlin und natürlich nach Juist gefolgt und hat die Schule am Meer wieder aufleben lassen. In dem Roman erzählt sie die Geschichte im Wechsel aus den verschiedenen Perspektiven der Protagonisten, und so kommt sowohl die Familie Reiner, wie auch der Schüler Moskito, das Küchenmädchen (und vieles anderes) Marje und der (unter anderem) Gemeindediener Gustav Wenninger „zu Wort“. Durch diesen Wechsel bekommt der Leser ein sehr eindrucksvolles Bild der verschiedenen Ansichten und Meinungen auf der Insel und auch von der Grundstimmung, die dort herrschte und die die Menschen geprägt hat. Die Geschichte basiert in erster Linie auf dem Logbuch der Schule, das der Schulleiter Luserke sehr penibel führte.

Insgesamt ist der Roman lebhaft, gefühlvoll und beschreibend geschrieben, wodurch man beim Lesen ein unglaublich gutes Bild der Umstände bekommt, sich aber gleichzeitig sehr gut in die Situation der einzelnen Kinder und Lehrer hineinversetzten kann. Ich habe die Geschichte sehr gerne gelesen und konnte dieses etwas dickere Buch gar nicht mehr aus der Hand legen. Eine echte Ferienlektüre für jedermann!

Lena

Wärt ihr gerne auf die Schule am Meer gegangen? Und wie hättet ihr euch an Annis Stelle verhalten, als sie vor der schweren Entscheidung stand, wie sie ihre Zukunft gestalten soll?

Winterbienen (Norbert Scheuer, 2019, C.H.Beck-Verlag; 2020 Verlagsgesellschaft mbH & Co.)

Winterbienen (Norbert Scheuer, 2019, C.H.Beck-Verlag; 2020 Verlagsgesellschaft mbH & Co.)

„Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen.“ (Cicero / Auszug aus „Winterbienen“)

Januar 1944. Egidius Arimond lebt zusammen mit seinen Bienenvölkern in einem kleinen Dorf in der Eifel. Als Epileptiker gilt er aus der Sicht der Nationalsozialisten als unwertes Leben, gleichzeitig schützt es ihn aber auch vor dem Einsatz als Soldat im Krieg. Als die Eifel immer mehr unter Beschuss gerät, wird in dem kleinen Dorf allerdings alles ein bisschen schwerer. Er kommt nicht mehr leicht an seine wichtigen Medikamente und bei ihm werden Soldaten einquartiert. Grundsätzlich nicht so schlimm, nur erschweren diese Umstände seine Aufgabe: Er bringt als Schleuser jüdischen Flüchtlingen über die belgische Grenze – auf seine ganz eigene Art …

Der Roman ist das Tagebuch von Egidius Arimond. Norbert Scheuer wurde gebeten, seine Geschichte als Buch aufzuschreiben, sodass jeder die Möglichkeit hat, sich von diesem Mann, der seiner Krankheit getrotzt hat und die Familientradition, die Imkerei, immer weitergeführt hat, inspirieren zu lassen. Egidius verbringt sein Leben bei den Bienenstöcken, in der Bibliothek oder aber in der Vergangenheit seiner Familie, in dem Leben von Ambrosius Arimond im 15. Jahrhundert.

Das Buch ist in sehr leichter Sprache geschrieben, da es aber ein Tagebuch ist zieht es sich beim Lesen manchmal etwas, vor allem wenn Egidius in der Welt seiner Bienen ist. Gleichzeitig ist aber genau dies auf irgendeine Art faszinierend, denn trotz all dem Grauen um sich herum, verliert er nie den Blick für seine Lebensinhalte.

Ich kann dieses Buch grundsätzlich jedem empfehlen, da es ein Einzelschicksal von großer Bedeutung ist. Allerdings würde ich es vor allem den Lesern in die Hand drücken, die sich gerne in der Geschichte des Zweiten Weltkrieges bewegen, da diese Geschichte sehr tiefgründig ist.

Lena

Hättet ihr das Ende erwartet? Mich hat es regelrecht geschockt …

Jahre aus Seide (Ulrike Renk, 2020, Aufbau-Taschenbuch-Verlag)

Jahre aus Seide (Ulrike Renk, 2020, Aufbau-Taschenbuch-Verlag)

„Wenn ich einmal nicht mehr auf dieser Welt bin, dann sehen meine Enkel und Urenkel aus diesem Buch, dass meine Jugend, so schön sie mir von meinen Eltern auch gemacht wurde, doch nicht so sorgenlos war, wie [es], so hoffe ich fest, meine Nachfahren einmal haben werden.“ (Auszug aus dem Tagebuch von Ruth Meyer)

1932. Ruth Meyer lebt zusammen mit ihrer jüngeren Schwester Ilse und ihren Eltern in einem schönen Haus in Krefeld, wo sie am liebsten Zeit in der benachbarten Villa des Seidenhändlers Merländer mit ihrer Freundin Rosi verbringt. Sie hat eine unbeschwerte Kindheit und Jugend, lernt das Nähen zu lieben und sie begegnet ihrer ersten großen Liebe Kurt. Die Sommer verbringt die Familie am liebsten mit der befreundeten Familie Aretz und Ruths Cousin Hans in der Sommerfrische.

Als jedoch die Nationalsozialisten an die Macht kommen, scheint es für die Familie keine Zukunft in Krefeld zu geben, denn die Meyers sind jüdisch. Mehrere befreundete Familien überlegen, auszuwandern und auch Ruth soll gegen ihren Willen von der Familie fortgehen. Doch bevor irgendjemand Entscheidungen treffen kann, kommt der Tag, an dem das Schicksal der Familie Meyer in Ruths Händen liegt …

„Jahre aus Seide“ ist der erste Teil von vier Bänden, die die Geschichte von Ruth und ihrer Familie erzählen. Die Romane basieren sowohl auf sehr ausführlichen Nachforschungen der Autorin, als auch auf Ruths Berichten aus ihrem Tagebuch, denn die Geschichte ist wahr. Die Familie Meyer lebte wirklich in Krefeld und in meinen Augen hat die Tatsache, dass all die Eindrücke, die aus Ruths Perspektive beschrieben sind, wahr sind, die Geschichte umso wertvoller und berührender gemacht. Ulrike Renk hat mich weinen, hoffen und lachen lassen, weil sie mich auf eine Reise zu einer Familie mitgenommen hat, die von einem Hochpunkt im Leben zu einem Tiefpunkt gesprungen ist und trotzdem nie gänzlich die Hoffnung verloren hat.

Die Familie Meyer war eine gut situierte jüdische Familie, was ihnen sehr vielen Punkten zum Verhängnis geworden ist, in anderen Momenten aber auch ein wenig geholfen hat. Die Romane sind die ganze Zeit aus Ruths Perspektive oder aber aus der eines allwissenden Erzählers geschrieben, wodurch man als Leser wirklich ganz nah an der echten Handlung und den echten Gefühlen dran ist. Ich habe die Romane verschlungen und geliebt, auch wenn es zwischenzeitlich echt schwierig war, das Gelesene zu verarbeiten. Es ist eine sehr tiefgründige Geschichte, die aber als leichte Lektüre verpackt ist und deshalb würde ich jedem, der an Einzelschicksalen, die es aber in tausendfacher Zahl gab, interessiert ist, empfehlen, sie Zeit für diese Romane zu nehmen.

Lena

Hättet ihr eure Familie verlassen, um zu arbeiten und mit der Mini-Hoffnung, dass ihr sie damit retten könnte? Und was habt ihr gefühlt, als Ilse und Ruth nach der Reichskristallnacht in die Friedrich-Ebert-Allee gekommen sind?